Mittwoch, 30. März 2011

Sonntag, 27. März 2011

Donnerstag, 24. März 2011

26.
Liebe gute H.: ich bin wieder daheim. Seltsam, wenn man zu einem Hotelzimmer so was sagt. Romana hat mir eine Zeichnung von sich geschenkt; sie hat sie selber gemacht und sie ist gelungen. Ich habe sie mit dem Gesicht nach unten auf meinen Tisch gelegt. Ich brauch jetzt erst mal ein paar Tage Ruhe. Dieser Ausflug zu diesen Leuten hat mich angegriffen, was bestimmt nicht deren Schuld ist. Jetzt schwanke ich: soll ich mich hier einigeln oder lieber eine zweite Reise antreten. Irgend etwas Beruhigendes mit Natur und Langeweile und Ruhe. Wenigstens Stille. Als ob ich das alles nicht auch hier hätte! Alles in mir brodelt; die Fenster sind mir zu groß (und zu durchsichtig), der Balkon überfüllt mit Himmel und Wolken, die Bücher zudringlich: hab jedes nach einigen Sätzen wieder zugeklappt. Wie diese kauzigen Gummibälle, die nicht mehr aufhören zu springen zuckt irgendwas in mir hinauf und hinab. Wenn ich schlafen könnte, aber es ist früher Nachmittag, da brauch ich mich gar nicht erst hin zu legen, wird doch nichts daraus. Für die „grüne Dämmerung“ des Weißweins ist es noch zu früh¬ – ich langweile dich mit meinem Gejaule.

Nun bin ich doch ein wenig eingenickt, auf dem Sofa, nein, es dämmert ja schon, da hab ich ja doch ein paar Stündchen geschlafen. Und fühle mich nun auch weniger mutlos, wenn auch noch nicht eben unternehmungslustig. Ruhiger, gelassener. Jetzt aber raus auf den Abendbalkon, mit dem herrlichen Weißen, er ist wunderbar kühl und würzig - und Kastanien; die schmecken hier besonders süß und aromatisch. Ich röste sie nicht, ich koch sie.
Wie gut die Luft draußen riecht. Es gibt hier in einem der Bäume einen Vogel, eine Nachtigall? Der singt, sobald die Sonne untergegangen ist. So vielfältig wie bei uns die Amseln (im Garten, im Regen...). Fast, als hätte er keine genetisch vorgeschriebene Melodie zu absolvieren, als würd’ er improvisieren; ein geborener Solist. Ob er für mich singt? Wär’ mir das überhaupt recht? Natur schert sich immer einen Dreck um uns und der Sonnenuntergang würde sich, könnte er fühlen, graulen vor unserem inneren Jaulen.
Heut darfst du mich so ernst nehmen, ich brabbl so vor mich hin, aber ich stell mir doch vor, wie du das liest, den Kopf schüttelst. Und dir deine Gedanken machst um mich. Musst du aber nicht; ich komm schon bald wieder auf die Beine. Und jetzt schwimmt sogar der Mond hinter den Bäumen hoch; ein bisschen rötlich und unheimlich groß. Und wirklich ganz rund, ohne die geringste Beule. Wenn ich ein Wolf wäre, müsste ich jetzt aber heulen,- ich hör lieber auf, sonst schickst du mir noch Beruhigungstabletten. Sei ganz lieb gegrüßt und mach dir bitte um mich keine Sorgen.
J.

Mittwoch, 23. März 2011

25.

War nichts. Jemand hat mir eine Schale Obst in die Eingangshalle gestellt; das geschieht oft und ich weiß nicht einmal, wer mein Wohltäter ist. Die Leute sind hier unglaublich freundlich. Wunderbares frisches Obst!
Wo war ich? Ach ja, ich hatte dir von unserer seltsamen „Bettszene“ geschrieben. Offenbar war es Romana sehr peinlich, dass ich den Vorhang zuziehen wollte; mir war das Gegenteil peinlich. Zum Glück tauchte einer ihrer kleinen Geschwister auf; offenbar sollten wir zum Essen hinunter kommen. Ich war fast erleichtert, ehrlich gesagt, das waren Sitten, die mein Weltbild auf den Kopf stellten,- und es sollte noch schlimmer kommen.
Wie liebevoll der Tisch gedeckt war, Blumen an jedem Platz, Kerzen. Auf den Tellern hatte jeder einen kleinen Zettel. Jeder las seinen vor; mich übersprang man großzügig. Jeden legte sich selber auf aus großen Schüsseln. Als alle etwas auf ihrem Teller hatten griff ich zur Gabel und wollte anfangen zu essen. Romana, die rechts von mir saß hielt meine Hand fest und schaute mich dringlich an. Dann vertauschte sie meinen Teller mit dem ihren und ich sah beschämt, dass alle ihre Teller mit ihrem Nachbarn tauschten. Irritiert dachte, jetzt bloß nicht noch einen faux-pas und statt zu essen wartete ich ab. Zum Glück. Denn jetzt streckten alle ihre Hände aus und berührten damit das Gesicht ihres Nachbarns. Links neben mir saß ein sehr kleines Mädchen; das kam nicht hoch bis zu meinen Gesicht, da kletterte es einfach auf den Stuhl. Nun war aber das Gesicht seines linken, auch sehr kleinen, Nachbarn zu weit unten. Die Kleine konnte nicht gleichzeitig mich und ihren Nachbarn anfassen. Alle lachten gutmütig. Der Vater sagte etwas, worauf die Kleine mit einem größeren Geschwisterchen Platz tauschte – Als endlich alle zu essen anfingen, war mir fast der Appetit vergangen. Kleinlaut schaute ich mich nach allen Seiten um, es gab aber offenbar im Moment kein neues Fettnäpfen für mich und ich aß auch. Es schmeckte wunderbar, recht fremd aber wirklich gut. Nein, es schmeckte umwerfend. Anders als bei uns gab es nicht ein großes Gericht sondern sehr viele kleine und als wir endlich bei der Nachspeise angekommen waren, konnte ich fast nicht mehr.
Der Vater saß an einem Ende des langen Tisches, die Mutter am anderen. Beide haben mich sehr beeindruckt obwohl ich ja nichts von dem verstand, was sie sprachen.
Der Vater, groß, kurze Haare, einen ebenfalls kurzen Bart, erstaunlich helle Augen, von denen ich mir irgendwie durchschaut fühlte. Ich weiß auch nicht, warum. Er hatte eine seltsame Ausstrahlung von gütiger Autorität, wenn es so was gibt. Vielleicht sollte man sagen: von einer unangestrengten Autorität. Er fragte viel, hörte zu, akzeptierte durch ein warmes Lächeln,- du siehst, ich war gleich verknallt in ihn. Die Mutter sprach weniger, streckte manchmal die Hände aus, nach der die Kinder dann glücklich schnappten, stand auch hin und wieder auf und streichelte einem der Kinder kurz übers Haar. Ich muss sagen, ich fühlte mich beeindruckt.

Nach dem Essen versuchte mir Romana die Einladung ihres Vaters zu übersetzen, dass ich in ihrem Haus als Gast übernachten solle. Sie zeigte mir mein Zimmer; es lag neben ihrem. Die Kleinen wurden von der Mutter ist Bett gebracht, ich sollte ihnen noch gute Nacht sagen („sagen“ ist gut). Sie hielten mich zutraulich an den Händen und beinahe hätte ich ihnen eine Gute-Nachtgeschichte erzählt; irgendwie, kam mir vor, erwarteten sie es sogar.
Romana nahm mich mit auf ihr Zimmer, zeigte mir Zeichnungen, offenbar von ihr selber gemacht. Sehr niedliche, begabte Skizzen von Naturszenen, auch ein paar Portraits der Geschwister, der Eltern. Als sie sich zu entkleiden begann, wurde ich wieder rot – so oft wie hier bin ich seit Jahrzehnten nicht mehr errötet – und verzog mich zurück auf mein Zimmer. Dann erwartete mich freilich noch eine Katastrophe, mit der ich nicht gerechnet hatte. Du erinnerst dich, dass ich dir geschrieben hatte, dass es hier keine Türen gab. Das galt leider auch für die Toilette. Ich fand keinen Lichtschalter,- um ihn auszuschalten und setzte mich dann mit einem Stossgebet auf die Toilette: lieber Gott, lass niemanden kommen. Es gibt keinen Gott, jetzt weiß ich es. Auf dem Korridor vor dem Bad ging die Mutter vorbei und statt diskret wegzuschauen lächelte sie mir zu. Mir blieb das Herz stehen: einen Augenblick sah es so aus, aus würde sie vor dem Bad stehenbleiben um mir irgendwas zu erklären. Vielleicht war es mein Schweißausbruch, mein verzweifeltes Gesicht; jedenfalls blieb sie nicht stehen, sondern ging weiter, wohl, um Bettwäsche in mein Zimmer zu tragen. Verzweifelt spülte ich und vertiefte mich in ein endloses Händewaschen. Die Mutter aber ging in Romanas Zimmer, beiden scherzten und ich nutzte die Gelegenheit und huschte wie ein Taschendieb in mein Zimmer.
Bald wurde es still im Haus aber ich hörte alles. Wie eine kleine Nachtmusik rauschte ein Umdrehen, ein Bettdeckenrascheln, ein wohliges Gähnen und Seufzen durch das Haus. Eine Treppe tiefer war das Schlafzimmer der Eltern; natürlich ohne Tür. Ich hörte die beiden heiter und zugewandt plaudern; mein Name fiel wiederholt,- oh je, dachte ich; was die wohl von mir halten. Dann sprachen beide zur gleichen Zeit, vielleicht ein Gebet? Bald schliefen sie. Nun hörte ich den gleichmäßigen Atem Romanas aus dem Nebenzimmer aufblühen. Ich wär’ gern zu ihr gegangen, traute mich aber nicht. Sie war so nah und doch so fern. Und diese offenen Türen, nein, die türlosen Zimmer, dazu die großen Löcher in den Wänden, es war, als würde meine Decke über mir schweben statt mich zuzudecken. Irgendwann schlief sogar ich ein. Frag mich nicht nach meinen Träumen.
Bis bald und bleib munter:
J.

Dienstag, 22. März 2011

24.
Ahnst du, was mich schließlich doch aus dem Haus gelockt hat? Natürlich: ein Weibsbild. Ich saß auf dem Balkon, am späten Nachmittag; mit einem Glas Wein. Du weißt, ich trinke um die Zeit sonst keinen Alkohol. Ein wunderbar würziger, bernsteinfarbener Weißwein hatte es mir angetan. Er war zur Begrüßung auf dem Tisch gestanden, aber ich hatte ihn einige Tage lang gar nicht beachtet. Ich hatte ihn in den Kühlschrank gestellt und dort vergessen. Mit dem saß ich im Schatten auf dem Balkon und las, als unten der Kies von Schritten knirschte. Fast leise; als ging ein Kind den Weg entlang. Ich hatte tagelang keinen Menschen gesehen oder gehört. Neugierig fuhr ich aus dem Sessel auf und beugte mich über die Brüstung. Dabei entglitt mir der Stift, den ich beim Lesen immer in der Hand halte und fiel hinunter. Um ein Haar hätte er die junge Frau getroffen, die unten ging. Sie sprang erschreckt zur Seite, blickte hoch und begann zu lachen, mehr über ihren Schreck als über mein entgeistertes Gesicht. (Oder lachte sie doch über mich?). Ich entschuldigte mich verlegen aber sie lachte immer weiter. Dann bückte sie sich und versuchte, den Stift zu mir hochzuwerfen. Ohne Erfolg. Ich streckte mich nach unten, tat, als versuchte ich, meinen Arm wachsen zu lassen und so weiter. Ein munteres Spielchen und bald lachten wir beide wie alte Bekannte.
Erhitzt setzte sie sich auf eine Bank und ich bedeutete ihr, dass ich runterkäme. Sie nickte erfreut und ich beeilte mich.
Sie wartete, bis ich vor ihr stand, dann erhob sie sich, streckte mir ihre Handflächen hin und – da ich sie nur verwundert anstarrte – hob sie auch meine Handflächen in diese Stellung und berührte sie mit ihren Händen. Dann beugte sie sich vor und küsste mich auf den Mund. Ich war sehr verwirrt, begriff aber schnell an ihrer freundlichen Unbefangenheit dass das ein hier übliches Begrüßungsritual sein musste. Ich fürchte, ich wurde ziemlich rot. Und schon lachte sie wieder. Sie war jung, sehr schön, fand ich, ganz in weiß gekleidet. Kurze braune Haare, keinen Schmuck, hatte ein wunderbar offenes Gesicht, scharf blickende Augen, einen vollen Mund. Sie wirkte seltsam, wie soll ich sagen: rein? Nein, das klingt ja fürchterlich. Jedenfalls sehr zugewandt und trotzdem ganz authentisch. Sie sprach in einem musikalischen aber harten Dialekt oder gar einer anderen Sprache zu mir. Und wieder einmal verstand ich kein Wort; immerhin soviel, dass ich sie begleiten sollte, dass sie mir was zeigen wollte?

Nach einem flotten Spaziergang von etwa einer Stunde, sie hatte mich an der Hand genommen, führte uns ein schmaler und abschüssiger Weg in ein anderes Tal hinab und da sah man eine Art Siedlung, im Kreis um einen großen Garten herum gebaut.
Du musst dir das so vorstellen: zahlreiche, hübsche Häuser mit einem üppigen Blumengarten vorm Eingang waren kreisförmig nebeneinander gestellt. Durch die Zwischenräume sah man in einen großen Garten, fast schon ein Park, auf der Rückseite. Die Häuser sahen alle gleich aus, zwei Stockwerke, sehr große Fenster, hübsche Kamine auf dem Dach, hoch und tulpenförmig; erinnerten mich sofort an Venedig. Später, als ich drin war, merkte ich auch, dass die Häuser nach hinten viel länger waren als vorn in der Breite.
Das Mädchen rief etwas, später erfuhr ich, dass sie Romana heißt, da traten ihre Eltern und wohl einige Geschwister heraus und alle begrüßten mich auf die selbe verwunderliche Weise – Hände berühren, Kuss auf den Mund – wie es Romana getan hatte. Diesmal wurde ich nicht rot aber fühlte mich doch recht seltsam. Da ich ihre Sprache nicht verstand, konnte ich nur albern nicken und lächeln. Zum Glück zogen sich die Eltern bald zurück; Romana sollte mir offenbar das Haus zeigen und die kleinen Geschwister hängten sich schnatternd und kichernd an uns ran. Da alle hier im Haus die selbe Kleidung trugen – Romana hatte sich auch rasch umgezogen – konnte man bei den Kindern nicht so ohne weiteres unterscheiden, ob es Jungs oder Mädchen waren.
Alle Zimmer das Hauses waren ungewöhnlich hell, Licht durchflutet von den sehr großen Fenstern. Seltsamerweise hatten auch die Wände große runde Fenster von einem Zimmer zum anderen. Zwar mit Glas, aber trotzdem kamen mir dadurch die Zimmer seltsam offen, unabgeschlossen vor. Türen gab es im Haus überhaupt keine; das ist mir aber erst später aufgefallen. Am Ende der Führung landeten wir in Romanas Zimmer; es passte sehr gut zu ihr, obwohl ich nicht hätte sagen können, warum. Wenig Möbel, ein Schreibtisch mit Blumen, ein Regal mit alten Büchern, keine Bilder an den Wänden. Aber ein großes Bett, ein breites Doppelbett, mit einer wunderschön bestickten Tagesdecke, stand in der Mitte des Zimmers. Romana hopste auf das Bett, räkelte sich gut gelaunt und streckte die Arme nach mir aus. Ich sollte mich dazulegen? Verwirrt schaute ich zu den Kindern, doch die machten es sich auch schon bequem auf dem Bett, sozusagen zu unseren Füssen. Und da Romana nicht aufhörte, mich mit ausgebreiteten Armen einzuladen, kroch ich zögernd und umständlich auch auf das Bett. (Natürlich wurde ich wieder rot, was die Gören offenbar bemerkten und mit Beifall und Gelächter kommentierten). Romana zog mich an sich und küsste mich, diesmal ohne das Händepatschen. Den kleinen Bettgästen schien das völlig normal; sie hatten ihr Interesse an uns verloren, auch an mir und fingen irgend ein Spiel an. Zum Glück ertönte von unten der Ruf der Mutter und alle stürmten davon.
Ich befreite mich aus Romanas Umarmung, glitt vom Bett und ging zum großen Fenster auf der Straßenseite und zog den Vorhang zu. Noch ehe ich zum Bett zurückkam, war Romana aufgesprungen, peinlich berührt, fast entsetzt zog sie den Vorhang wieder auf. Sie sah mich mit großen Augen an, fast vorwurfsvoll, wie mir schien. Dann legte sie sich wieder hin und lächelte mich erwartungsvoll an. Nun verstand ich gar nichts mehr. Ich nahm – oh entschuldige, es klopft unten an meiner Haustür, ich muss mal rasch nachschauen, wer das ist - „hold the line!“.

Donnerstag, 17. März 2011

23.
ich weiß gar nicht, ob das auf mich einströmt? Oder aus mir heraus? Ich spüre eine Bewegung in mir und sitze doch nur auf dem Balkon und schau hinaus. Vom Wald kommt baumgrün eine würzige Luft zu mir herüber, aber das ist es auch nicht. Ich kann es nicht beschreiben. Meine Unruhe, auch der nachhallende Schock verdunsten gleichsam, zugleich saugt sich mein Körper voll von einem Frieden, einer Zustimmung – ach, ich lass es. Vielleicht verstehst du mich trotzdem.
Das Haus, in dem ich nun wohne, ist nicht klein, aber schmal. Es hat zwei Stockwerke, verbunden durch eine Wendeltreppe. Im oberen schlingt sich ein Balkon wie ein Ring um das ganze Haus. Das Tischchen, der Stuhl, ein Abstellhocker, sie haben Räder, man kann sie verschieben: immer der Sonne nach, oder dem Schatten. Dabei ändert sich der Ausblick wenig. Wie ein zweiter großer Ring schließt überall ein dunkler Wald das Bühnenbild. Davor Wiesen, Bäche, ein kleiner See. Nah rings um das Haus ein Gärtchen. Obstbäume, Blumenbeete. Kräuter. Bänke, schmale Wege mit hellem Kies bestreut.
Im Haus gibt es Zimmer, die sich vor allem durch das Licht unterscheiden. Ein Raum, ich nenne ihn den Salon, ist von Licht geradezu überflutet. Tagsüber fast gleißend; am Abend scheint das Licht aus den großen Fenster hinauszurinnen, wie die Ebbe das Meer mit sich mitnimmt. Diese Fenster werden großäugig, fast vibrierend vor Helligkeit, während drinnen das Dunkle wie ein Wasserspiegel ansteigt, oder von oben herabsinkt? Diese Dämmerung wie eine Vorstellung, wie ein Konzert zu erleben ist wunderschön. Ganz gegen meine sonstige Gewohnheit muss ich nichts lesen, nichts schreiben. Nur diesen Lichtwandel erleben. Einziger Zuhörer, einziger Zuschauer von etwas Großem.
Ein anderes Zimmer, unterm Dach, ist dagegen fast dunkel. Hoch oben einige runde Fensteröffnungen. Man fühlt sich aber nicht wie in einem Verlies, eher wie in einer alten Wallfahrtskirche, vor den Zeiten der künstlichen Beleuchtung. Obwohl das Licht sich in wahren Kaskaden durch diese Luken in den Raum ergießt hat man eher den Eindruck, das seien Luken hinaus, Ferngläser,- in den Kosmos?

Ich fürchte, für deinen Geschmack bin ich heut zu schwärmerisch; vielleicht vermisst du gar meine sonstige Ironie, meine Spöttelei. Ich weiß selber nicht, wenn ich das Geschriebene noch mal durchlese, kommt es mir schon ein wenig verschwiemelt vor. Wenn ich aber den Blick vom Blatt löse und ihn wieder dem Raum und seinem Licht zuwende, kommen mir meine Worte eher noch zu dürftig vor. Du wirst es nicht glauben, seit drei Tagen bin ich nun hier und habe das Haus kaum verlassen; manchmal ein paar Schritte im Garten, aber schon zieht es mich wieder zurück in die Räume oder auf den Balkon. Auf dem Dach ist übrigens eine Art Altane, da hab ich einmal eine Nacht geschlafen; unter dem nackten Himmel. Anfangs mit Unbehagen, als wär’ ich nicht zudeckt, weil der Raum über mir so endlos erschien. Je dunkler es wurde – und es war eine sternklare Nacht – um so ruhiger fühlte ich mich. Ganz früh hat mich aber die Kälte aufgeweckt, die durch meine Decken sickerte. Da bin ich drunten in mein weiches Bett gekrochen. Ehe ich wieder einschlief, ich hatte die Augen geschlossen, sah ich die zahllosen Sterne über mir. Was sagst du? Seltsame Dinge gehen hier vor.
J.

Mittwoch, 9. März 2011

22.
Nun bin ich im Paradies. Wie schön kann eine Landschaft sein! Dabei war der Weg hierher nicht nur beschwerlich; er war auch – soll ich sagen: verdrießlich? Es hat mich jedenfalls sehr genervt, dass dieses Tier dauernd vor mir herlief. Du weißt, ich mag Hunde nicht; krieg schnell eine Gänsehaut und einen Herzstich, wenn unvermutet ein Hund um eine Hausecke kommt. Und wechsle dann unauffällig die Straßenseite. Aber dieses Tier war grad durch seine Nichtschrecklichkeit so schrecklich. Ich glaube, es war Chonlins Idee, mir diesen Hund als Führer mitzugeben. Tatsächlich hätte ich den Weg hierher niemals selber gefunden, auch nicht mit den besten Karten oder Wegbeschreibungen. Ein ewiges Zickzack; die schlechten Wege, nein eher: der Mangel an Wegen nötigte dazu. Es ging mal rauf, dann wieder steil hinab. Durch Dickicht, über Bäche, nein durch Bäche, Brücken gab es nicht. Das Lästige, nein: das Unheimliche war, dass dieser Hund immer ein paar Schritte vor mir herlief, an Wegkreuzungen sich nach mir umblickte, grenzenlos geduldig. Und dass er offenbar keine Zweifel hatte, den richtigen Weg zu führen. Kein Zögern, kein Umkehren,- immer geradeaus vor mir her. Nie zu schnell, nie zu langsam.
Wir haben den Weg nicht an einem Tag geschafft und ich sag die Wahrheit: am Abend des ersten Tags blieb er stehen, schaute mich durchdringend an und legte sich dann einfach hin. Was blieb mir anderes übrig, als das gleiche zu tun. Immerhin fühlte ich mich in dieser Nacht sicher. Am Morgen aber, als ich erwachte, war er schon vor mir wach; er schien auf mich gewartete zu haben. Sobald ich mich regte, sprang er auf und zog wieder vor mir her, immer ein paar Meter voraus. Ich sollte ihm, sobald wir angekommen waren, ein sorgfältig verpacktes Futter geben; Chonlin hatte mir eingeschärft, ihm das ja nicht früher zu zeigen oder gar zu geben. Als wir am Nachmittag des zweiten Tags aus dem Wald auf eine Lichtung traten, auf der einige Häuser zu sehen waren, rings um einen See – so hatte mir Chonlin das Ziel beschrieben, wickelte ich dieses Superfutter aus und gab es dem Hund. Eine Art Wurst. Der machte sich sofort gierig darüber her und als er alles gefressen hatte, lief er zurück in den Wald, ohne sich noch einmal umzusehen. Schon recht seltsam, findest du nicht auch?
Ich ging die blumenübersäte Wiese, ein sanfter Abhang, hinab zum See und betrat das größte Haus. Es war bunt gemalt, wie Chonlin es mir beschrieben hatte. Da ich keine Klingel fand klopfte ich, als beim wiederholten Klopfen niemand öffnete ging ich hinein. Die Tür war nicht verschlossen. Drinnen war es sehr hell, aber die Räume hatten praktisch keine Möbel. Und trotzdem sah es nicht verlassen aus. In der Mitte der Eingangshalle, auf einem großen Holztisch (das einzige Möbel in dem Raum mit großen Fenstern) lag ein Briefumschlag mit meinem Namen. falsch geschrieben, also der Vorname mit k statt mit c aber offenbar für mich bestimmt. Eine Wegbeschreibung zu „meinem“ Haus, gezeichnet und auf deutsch (!) das Wort „Willkommen“.
Ich will dich nicht auf die Folter spannen: die Wegbeschreibung war tadellos, ich fand das Haus ohne Probleme. Klein, hell, wunderschön. Mehrere Zimmerchen. Unverschlossen, als gäbe es hier überhaupt keine Schlösser. Und wieder lag ein Brief für mich da. Ich machte eine kleine Runde durch das Haus. Als ich im ersten Stock auf die Terrasse hinaustrat, wusste ich, ich war im Paradies.
Sehr bewegt und glücklich: Jacob

Dienstag, 8. März 2011

21.
Ich hab mich neu eingekleidet, trag’ nun die ein wenig formlose, bequeme Bekleidung der Einheimischen aus hellem Leinen; es hilft mir Abstand zu gewinnen zu den letzten Tagen. (Es hallt länger in mir nach als ich gedacht hatte). Ich bin dadurch auch ein bisschen weniger auffällig als Fremder gekennzeichnet,- obwohl mich nach dem ganzen Theater mit dem Überfall und meiner Flucht und der Suche nach mir usw. fast alle kennen. Das ist mir schon peinlich. Ich muss weiterreisen, auch deshalb, aber vor allem, weil hier alles vollgesogen ist vom Schrecken der letzten Tage. Ich habe mich von Johanno beraten lassen, vorher aber will ich dem armen Alten, den die Räuber überfallen hatten, noch einen kleinen Besuch abstatten. Vielleicht kann ich Minjonn bewegen, mich zu begleiten. Johanno hat mir den Tip gegeben, für einige Zeit in ein Hochtal zu reisen, das nicht nur durch seine landschaftliche Schönheit sehr beruhigend wirken soll; es gibt dort auch einige Gemeinschaften, eine Art Sekten würden wir vielleicht sagen, aber das Wort sollte nichts Abschätziges beinhalten. Johanno wollte nicht genauer werden. Jedenfalls Leute, die einen eigentümlichen Lebensstil praktizierten.

Es war eine gute Idee, den Alten zu besuchen, und eine gute Idee war es auch, Minjonn mit zu nehmen. So kam es nicht wieder zu so einem gewaltigen Besäufnis wie bei meinem ersten Besuch. Der Alte, er heißt oder jedenfalls nennen ihn alles so: Chonlin. (da ch schweizerisch halsgekratzt). Chonlin trug noch einen dicken Verband um den Kopf, war aber schon wieder putzmunter; ein harter Bursche, der was wegstecken kann. Er begrüßte mich überschwänglich und baute gleich eine deftige Brotzeit für uns auf einem Tischchen im Garten vor dem Haus auf. Die Schnapsflasche verstaute er auf meinen dringenden Blick hin mit einer Grimasse unter den Tisch. Er stellte eine Schale mit Beeren auf den Tisch, über die sich sogar Minjonn sehr erstaunt zeigte; irgendwas Rares. Sahen aus wie Brombeeren, waren aber hellgelb. Sie schmeckten unwahrscheinlich aromatisch. Als ich merkte, wie scharf Minjonn auf diese offenbar sehr seltenen Früchte war, hielt ich mich zurück und überließ ihr den Löwenanteil.
Die Räuber waren entkommen, die Steinkröten nicht wieder aufgetaucht. Chonlin erzählte was von einem Markt, auf dem er sie zu finden hoffte, ich hab ihn aber nicht recht verstanden. Dass diese seltsamen Gebilde sehr wertvoll waren, hatte ich inzwischen kapiert. Auch Johanno hatte auf meine zweifelnden Fragen beteuert, das seien echte Steine und die darin verborgenen Kröten seien lebendig; wie das möglich sein sollte, wusste auch er nicht. Als der Alte von meiner bevorstehenden Reise hörte, kramte er in seinem behelfsmäßig renovierten Schuppen und kam mit einem Fläschchen zurück. Er redete auf Minjonn ein, sie sollte mir erklären, wozu die Flüssigkeit – es war ein altes Fläschchen, nur gut 10 cm hoch – gut sei. Ihre Erklärung verstand ich leider auch nicht viel besser als die des Alten. Irgendeine Medizin jedenfalls,- aber wofür, oder besser: wogegen? Bei Angst und großer Not oder so ähnlich. Er überreichte mir das Säftchen so feierlich, dass es mir fast unheimlich war. Um ihm zu zeigen, wie hoch ich sein Geschenk schätze, wickelte ich es pedantisch in mein Taschentuch und steckte es, vorsichtig als ob Nitroglyzerin drin wär’ , in meinen Rucksack. Er gab mir auch noch allerhand Ermahnungen mit auf den Weg, die ich großäugig anhörte und bedeutend dazu nickte; verstanden hab ich davon nur einen Bruchteil. Beim Weggehen steckte er mir noch mit Verschwörerblick einen Flasche Schnaps zu und ich ließ sie genau so komplizenhaft in der Jackentasche verschwinden; Minjonn tat uns den Gefallen und tat so, als bemerke sie nichts. Die haben es hier alle faustdick hinter den Ohren, das kannst du mir glauben.
Ich muss packen. Ich hab mich entschlossen, nur das allernotwendigste mit zu nehmen. Den Grossteil meines Gepäcks lasse ich hier in der Herberge, die so zu meinem Hauptquartier wird, in das man immer wieder zurückkehrt von seinen Expeditionen.
Deine Briefe werde ich mitnehmen; es sind ja nicht all zu viele. (!)
Denk in den nächsten Tage mal an deinen gutenalten
J.

Montag, 7. März 2011

20.
Sie haben mich eingefangen. Ich habe mich nicht widersetzt, als sie mich zurückbrachten. Zuerst war ich verwundert, als ich merkte, dass wir uns meiner Herberge näherten, nicht der Stadt. Ich hatte damit gerechnet, dass sie mich in’s Gefängnis brächten oder so was ähnliches. Meine Einfänger, oder soll ich das Grüppchen nennen, das mich in den Bergen überrascht hatte? Diese kleine Schar hatte mich seltsam fröhlich, ja fast erleichtert wie es mir vorkam, begrüßt. Sie gaben mir zu essen, hängten mir eine Decke um. Mit Erklärungen hielten sie sich seltsam zurück; später erfuhr ich, dass man ihnen eingeschärft hatte, nicht auf mich einzureden, weil ich sie ohnehin nicht verstanden hätte.
An der Herberge kam uns Minjonn entgegengelaufen, freudestrahlend fiel sie mir um den Hals. Hinter ihr, vor’m Eingang sah ich mit großer Erleichterung den freundlichen Alten stehen, von dem ich wusste, dass er deutsch sprach. Auch er kam mir nun entgegen, schüttelte mir fest und freundlich die Hand, klopfte mir auf die Schulter und sagte dann gutmütig brummelnd: „Junge, was hast du dir nur dabei gedacht? Einfach davon zu rennen.“
Mir kam alles so unwirklich vor. Meine Bewacher, nein, das waren sie offenbar gar nicht, also die Schar, die mich in den Bergen gefunden und herab geführt hatte, war seltsamerweise verschwunden. Nein, ich hörte ihr fröhliches Plaudern aus dem Gastraum, dazu das Klingen von Gläsern. Es ging bald hoch her. Ich verstand nichts. Johann hakte mich unter und zog mich auch in den Gastraum hinein, wo wir mit viel Lärm von den zechenden Polizisten – waren sie das? – begrüßt wurden. Sie prosteten mir alle zu und ich wusste nicht, wie ich schauen sollte.
Minjonn hatte einen Tisch für uns gedeckt und nun endlich erklärte mir Johanno die Lage. Als ich in Panik weggerannt war, fiel natürlich zuerst der Verdacht auf mich, deshalb die Verfolger, deshalb die Schüsse auf mich mit dieser heftigen Geruchsessenz. Tatsächlich das Mittel der hiesigen Polizei, flüchtige Täter zu stellen, sie wieder auffindbar zu machen. Nun fiel mir auch wieder auf, dass dieser ekelig intensive Geruch immer noch an mir haftete. Noch während ich im Bachbett zu entkommen hoffte, war der Alte schon wieder zu sich gekommen. Er hatte nur eine heftig blutende aber nicht weiter gefährliche Wunde am Kopf. Und er berichtete, was geschehen war. Räuber hatten ihn überfallen und als er sich zur Wehr setzte niedergeschlagen. Dann hatten sie seine Hütte durchwühlt; sie waren wegen der Steinkröten gekommen. Sie fanden das Versteck im Schuppen, nahmen alle Steine mit und legten das Feuer.
Das hatte der Alte den Polizisten erzählt. Als sie ihm von mir und meiner Flucht berichteten, nahm er mich sogleich in Schutz; ich sei sein Freund und würde ihm nie was tun und so weiter. Man beschloss mich zu suchen. Minjonn wurde verhört; sie leugnete, irgendwas von meinem Aufenthalt zu wissen, verplapperte sich dann aber wohl und man schickte einen Suchtruppen in das Gebirge und so weiter und so weiter.

Ich sitze nun wieder auf meinem Zimmer. Morgen hab ich einen Termin bei der Polizei, da will man mich „entstinken“; es gibt offenbar eine Spezialprozedur, diesen Geruch wieder zu neutralisieren. Heute stinke ich noch und es ist auch nicht besser geworden, seit ich alle Fenster aufgerissen habe und mich auf den Balkon gesetzt habe.
Natürlich bin ich ungeheuer erleichtert und dennoch verstört. Wie ein entgleister Zug stehe ich neben den Schienen und weiß nicht, wohin ich nun gehöre. Die wiedergeschenkten Behaglichkeiten der Zivilisation beruhigen mich zwar; neben mir steht das berühmte Tablett mit Essen und Trinken. Ich habe frische Kleider angezogen, die warme Dusche war wie ein Wunder, an das man nicht glauben mag, obwohl man es am eigenen Leib spürt. Ich bin allein; zum Glück, denn wenn jemand bei mir wäre, ich wüsste nicht, was ich mit ihm reden sollte. So richtig ist die Sprache, der Sprechwunsch noch nicht zu mir zurückgekehrt. Ich bin betäubt,- ja wovon eigentlich? Vielleicht sollte ich mehr Geduld mit mir haben. Ich werde dir wohl einige Tage lang nicht schreiben, nimm’s mir nicht übel. Ich melde mich, wenn ich wieder ein wenig klarer sehe,- oder deutlicher fühle.
J.

P.S: mach dir bloß keine Sorgen! Jetzt, da die Müdigkeit mich schaudernd wie eine Gänsehaut zu überziehen beginnt, wird der nachklingende Schrecken langsam unscharf, dämmrig und ich fürchte, ich hab dir alles zu melodramatisch geschildert. Ich geh lieber ins Bett.--

Sonntag, 6. März 2011

19.
H: Kennst du das auch? Manchmal ändert man sich, nein etwas an dir wird anders und das geht so langsam vor sich, dass man den Anfang nicht wahrnimmt, auch im nachhinein nicht mehr sagen könnte, wann und wie es begonnen hat.
Ich glaube, es war die Angst, dass mich jeder Laut verraten könnte; ich wusste, meine Verfolger hatten nicht aufgegeben. Sie schwiegen nun selber, um sich nicht zu verraten. Und ich eben auch. Ich hatte dir ja erzählt, dass das Echo jedes Wort, jeden Laut in einen schwirrenden Vogelschwarm verwandelte, dessen Kreischen und Gezeter bis zur Unerträglichkeit anschwoll, einen wie ein Spinnennetz einschnürte, bedrängte, bedrohte.
Aber nicht, dass ich um derlei zu vermeiden, nichts mehr rief, nichts mehr sagte, wollte ich dir erzählen. Erst war’s ein Vorsatz, dann begannen die Worte in mir zu versiegen. Ich weiß nicht, ob du dir das vorstellen kannst. Man hat ja manchmal einen Druck im Inneren, wenn man rülpsen muss; wenn ein Husten sich ankündet und man weiß, man kann ihn nicht mehr lange zurückhalten. Hinterher ist der Druck weg. Bei mir aber stellte sich etwas ein, das mehr war als ein Nicht-Druck; ich kann es nur so negativ formulieren. Bei einem Gespräch kennt man das doch: der andere sagt was und du spürst, wie auch bei dir sich etwas regt, wie es aufquillt, wie es drängender wird, wenn der andere dir keinen Raum lässt zum Antworten. Ich war allein, gut, und auf der Flucht. Aber es fühlte sich in mir an wie ein sinkender Wasserspiegel. Als würden sich die Worte, nein der Wunsch, Worte zu äußern, immer tiefer in mich zurückzuziehen. Ich atmete weiter, ruhig, mit Behagen; ich schluckte, spürte dabei meine Zunge im Mund. Aber nichts mehr in mir verlangte danach, zu reden. Mir fehlte es nicht mehr. Es war, als verheilte eine Wunde in mir, über die fortwährend Worte kratzend geglitten waren. Dabei fehlte es mir nicht an Worten, an Sprache. Ich dachte mir vieles, und spürte (?), es waren gute, genaue Formulierungen. Aber sie hatten ihren Sprachleib verloren, waren nicht mehr Luft, nicht mehr Klang, nicht mehr Schwingung in mir. Die Worte waren nun – ja: Geistig? Nein, das ist ein schales Wort. Ich kann es nicht benennen. Es war eine betörende Erfahrung. Befreiend. Sie hat natürlich nicht lange gedauert.
J.

Samstag, 5. März 2011

17.
Ach liebste H., was gäbe ich darum, jetzt bei dir auf deinem roten Sofa sitzen können, deinen unvermeidlichen grünen Tee im Glas...
Ich fühle mich ganz elend, nein, ich bin’s. Die erste Panik hat sich gelegt; um so schlimmer nun die wiederkehrende Vernunft, die mich anfeindet, ja ankeift: Und nun?! Aber ich weiß nicht weiter. Was so unvermutet über mich hereingebrochen ist, dafür hab ich keine Erfahrung. Mein Körper ist den Strapazen nicht gewachsen; du weißt, was ich für ein unsportlicher Bücherfresser bin. Die Füsse tun mir weh vom Laufen, das Herz rast von diesem ständigen Aufwärts. Manchmal denke ich, ich bin auf einem Weg, dann wieder habe ich den Eindruck, dass ich nur über Geröll stolpere. Bin schon ein paar mal hingefallen; meine Kniee bluten durch die Hose hindurch. Vor allem weiss ich gar nicht, wo ich hin soll oder hin will. Ich haste nur immer weiter einen Berg hinauf, durch Bäume, Moos, Gestrüpp, über Bäche. Immer weiter hinauf, weil ich denke, das bringt mich immer weiter weg. Ich bin auf der Flucht, mein Gott, wie das klingt. Ich weiß nicht mehr, was mich bewogen hat, so hirnlos davon zu rennen, als hätte ich die geringste Chance, in einem unbekannten Land unterzutauchen. In Romanen liest man so schön, dass solche Flüchtige wie ich im Wald sich von Beeren und Wurzeln nähren; ich hab noch nichts gesehen, was man essen könnte. Die Vorräte, die mir Minjonn zugesteckt hat, reichen bestenfalls noch bis morgen früh. Ich muss aufhören. Es dämmert schon, ich kann meine eigene Schrift nicht mehr lesen und das Blatt ist auch voll.-
Recht verzweifelt: J.
18.
Ich hab mich an meinen Gestank gewöhnt. Nein, das stimmt ja gar nicht: ich kann mich selbst nicht riechen,- nur dass das weniger geistreich ist als es klingt. Nach geistreich ist mir in meiner Situation schon gar nicht zu mute. Ich hab ein wenig geschlafen; mit Schaudern hab ich mich auf den Boden gelegt, tausend Ameisen oder schlimmeres erwartend. Ohne Dach überm Kopf, ja nicht ma eine Decke: da schien mir der Raum nach oben so grausam offen, wie aufgerissen; ein Loch nach oben. Aber ich war so erschöpft, dass ich einschlief, ehe das Grauen mich daran hindern konnte. Nun bin ich wieder wach, sehr früh vermutlich. Kein wildes Tier hat mich gefressen, auch kein kleines angenagt. Ich habe mir das Gesicht und die Hände mit dem eisigen Wasser eines Bachs gewaschen, ohne Seife, ohne Handtuch. Das klingt alles so wanderromantisch, ich aber fühle mich schrecklich beraubt. Bestraft für etwas, was ich nicht begangen habe. Jetzt kämpfen ein kleiner Wille zum Überleben, von der frischen Morgenluft gespeist, und eine ziehende Verzagtheit, von der Hoffnungslosigkeit meiner Situation genährt, in mir. Was soll ich machen? Wenn ich bedenke, wie lebendig ich noch vor 24 Stunden war, und jetzt ist meine Lebendigkeit eigentlich nur noch mechanisch: ich atme, ich schaue. Hunger habe ich auch. Schon im Schlaf hatte ich immer Stimmen gehört; nun wird mir klar, dass das kein Traum war: ich höre wirklich Rufe. Mein Name? Man sucht also schon nach mir, man ist mir auch schon nah. Noch bedrohlicher als diese näherkommenden Stimmen ist ihr Echo. Jeder Ruf, seltsame Schreie, schwellen als Echo an, zucken von allen Seiten durch die Luft und fallen als Pfeile auf mich herab. Jetzt bloss nicht der Versuchung der Schiffbrüchigen nachgeben; jetzt bloß nicht antworten. Aber sie werden mich auch so finden, sie sind noch kräftig und sie kennen sich hier oben aus. Als hätte ich ein Leck tropft, fließt der Mut aus mir heraus; ich spüre, wie mein Körper – oder ist das die Seele? – schlaffer wird, wie eine Matratze, aus der die Luft entweicht. Genug mit dem Gejammer; dadurch wird mir auch nicht wohler.
J.
16.
Wie nah man am Abgrund latschert; ein falscher Tritt und man ist geliefert. Dass ich so rasch und so gründlich in eine Katastrofe schlittern würde, hätte ich mir nicht vorstellen können. Vielleicht sollte ich dich nicht beunruhigen; du kannst mir sowieso nicht helfen, und vielleicht bin ich schon aus dem Schlamassel, wenn dich mein Brief erreicht – falls er dich jemals erreichen sollte. Ich bin auf der Flucht, und ich nutze eine kleine, notwendige Verschnaufpause, um mich durch das Schreiben selbst zu beruhigen. Darum auch nur in Stichworten. (Entschuldige das Papier: mein Essen war damit eingewickelt).
Ich hatte dir – glaub ich – zuletzt von meiner Empörung über die Tierquälerei mit den zwei Schwänen am Tiefen See berichtet. Als der Spuk vorbei war, hatte ich keine Lust mehr, mich ins Café zu setzen; ringsum war ja noch immer dieser Pöbel, der sich so amüsiert hatte. Da kam ich auf die Idee, ich hatte das schon lange vor, den alten Schäfer zu besuchen, der mir damals diese vertrackte Steinkröte geschenkt hatte,- nach unserer grausigen Sauferei. Inzwischen kannte ich auch einen weniger beschwerlichen Weg zu seiner Hütte im Wald. Vom See aus war es allerdings ein gutes Stück Weg. Das war mir gerade recht; der Fußmarsch würde mir helfen, meine schlechte Laune verdampfen zu lassen.
Schon in einiger Entfernung hatte ich den Eindruck, dass etwas nicht in Ordnung sei. Rauch stieg hinter den Bäumen auf, aber nicht jene dünne Rauchfahne, die darauf hindeutete, dass der Alte sich was zusammenprutzelte. Es sah aus, als brenne es. Ich beeilte mich, so gut ich konnte und tatsächlich: sein Schuppen stand in Flammen. Und er lag vor seiner Hütte, offenbar verletzt, blutüberströmt und unbeweglich. Du kannst dir vorstellen, wie mir der Schreck in die Glieder fuhr. Ein Überfall? Räuber? Aber was war bei dem guten Alten schon zu holen? Verzweifelt überlegte ich einen Augenblick, ob ich mich um das Feuer oder lieber erst um ihn kümmern sollte. Er wirkte wie tot, am Kopf hatte er eine große Wunde. Er lag da, mit dem Gesicht nach unten im Gras. Vorsichtig drehte ich ihn um; er atmete, stöhnte leise. Und hinter mir brannte die kleine Hütte, in der er sein Werkzeug hatte, noch durch die Flammen sah man, dass dort alles durchwühlt war. Was hatten die Räuber dort bloß zu finden gehofft? Die Hütte, eher ein Verschlag war aus Holz: es knatterte und die Flammen wuchsen schnell in die Höhe. Da würde ich nicht mehr viel mit löschen ausrichten. Aber wie konnte ich verhindern, dass das Feuer auf das Häuschen übergriff und wie sollte ich den Verwundeten versorgen. Ich war einen Augenblick vollkommen verzweifelt. Da hörte ich Stimmen, die rasch näherkamen. Ich richtete mich auf, schwenkte meine Jacke und schrie immer wieder: „Hier her“. Was für ein Unsinn, das Feuer war nun wirklich nicht zu übersehen. Zuerst wunderte ich mich, dann begriff ich: die Leute schrien, gestikulierten und deuteten immer wieder auf mich. Sie hielten mich für den Täter! Und nun sah ich auch, dass es Polizisten waren, oder Soldaten, jedenfalls waren sie bewaffnet und zielten, noch im Laufen, mich. Nun packte mich vollends die Panik. Meine Hände waren blutverschmiert, außer mir war hier niemand zu sehen und wie sollte ich den aufgebrachten Leuten mit meinen erbärmlichen Sprachkenntnissen die Lage erklären? Weg, bloß weg, war mein einziger Gedanken, dabei ist das Wort Gedanken bestimmt übertrieben. Man sieht schon, wie hirnlos ich handelte: ich riss mir meinen Rucksack von der Schulter und rannte davon. Hinein in den kleinen Bach, er ist nie tiefer als einen halben Meter. Er führt am schnellsten aus der Lichtung hinaus in den Wald. Die Leute schrien, wohl dass ich stehen bleiben sollte und dann schossen sie hinter mir her. Ich warf mich in den Bach und krabbelte, paddelte auf dem Bauch weiter. Als ich mich wieder aufrichtete, hörte ich die Schüsse und spürte auch gleich etwas an meiner Schulter und an meinen Haaren. Aber nicht wie den Einschlag einer Kugel; es klatschte eher, wie ein sehr feuchter Waschlappen. Es tat auch nicht weh. Und dann krauchte ich um eine Biegung und war aus der Schusslinie und bald schon im Wald. Seltsamerweise folgte mir niemand. Keuchend setzte ich mich an den Bachrand. Nun kam auch langsam mein Verstand zurück und ich dachte verzweifelt: Was nun?
Ich will es kurz machen: Ich kam in der Herberge an, halb tot vor Erschöpfung und bis zum Zerreißen angespannt und nun wieder ganz kopflos.
Minjonn lief mir entgegen, prallte aber erschreckt zurück und hielt sich die Nase zu. Jetzt bemerkte ich selber, dass ich wahnsinnig stank. Wir hasteten auf mein Zimmer, da zeigte mir Minjonn im Spiegel, dass ich hinten an der Jacke bis rauf zu den Haaren, wo der „Schuss“ mich getroffen hatte, grellrot gefärbt war. Und von daher kam auch der scharfe Geruch. Minjonn war ziemlich hektisch; verschwand und kam schon bald wieder: mit einem großen Fresspaket; da hatte sie alles Mögliche in Eile in der Küche zusammengerafft. Sie drängte mich, die Kleider zu wechseln; der Geruch und übrigens auch die Farbe waren aber schon auf meinen Körper übergegangen. Dann mahnte sie mich zu fliehen und führte mich durch einen Kellergang zu einem Ausgang des Hauses, den ich noch nicht kannte. Er führt auf ein Feld am Waldrand. Sie hielt sich noch mal die Nase zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab mir einen rührenden Kuss. Dann einen Schubser und ich rannte los.
Jacob.

Donnerstag, 3. März 2011

15.
Vielleicht ist das wieder so ein Beispiel für Doppelmoral? Ich kann mir nicht helfen, liebe H., - wenn ich selber depressiv bin, ja da komm ich mir irgendwie, was soll ich sagen? Da komm ich mir hellsichtig vor. Ich fühle: ich bin im Recht, die andern aber, diese leichtfertig Heiteren sind in meinen Augen oberflächlich, um nicht so sagen: beschränkt. Feiern ihr lachhaftes Leben, merken nicht, dass alles hohl ist. Ich muss dann an den Titel einer frühen Klee-Zeichnung denken: „Der Lachende hat die schlechte Botschaft noch nicht erhalten“. Durch all meine Düsterkeit, die Trauer, den Schmerz klingt dann immer noch etwas Heroisches. Die Welt rückt ins Ferne, ich selber aber bin mir näher als sonst.
Und wenn ich nicht depressiv bin, gar guten Mutes? Dann ist mein erstes Gefühl für so einen Verzagten,- Verachtung? Zumindest Langeweile. Auch Ungeduld und Enttäuschung darüber, dass mit ihm nichts anzufangen ist, dass er so wie er sich auch mich hängen lässt.
Mir ist das heut morgen erst so deutlich geworden. Der schwarze Fotograf, du erinnerst dich? Ich erzählte dir im letzten Brief von dem Paar, das nun in der selben Herberge wohnt wie ich. Heute Morgen hatte dieser Knabe offenbar seinen dunklen Tag. Er war mürrisch zum Reinhauen und maulte und wollte auf einmal überhaupt nichts unternehmen. Sie redet auf ihn ein, freundlich, geduldig mit ihrer Zwitscherstimme, aber das steigert offenbar nur seine miese Laune.
Wie auch immer, ich hatte nicht die geringste Lust, mich zu runterziehen zu lassen. Und bin allein losgezogen. Ich dachte, - das Wetter war schon seit Tagen so wundervoll klar – ich mach mir einen gemütlichen Tag am Tiefen See; von wegen. Vielleicht hätte ich mich nicht so aufregen sollen, ich hab’s aber gemacht.

Schon von weitem sah ich, dass irgendwas am Seeufer los war; eine Traube von Leuten. Kreischen, Gelächter und immer mehr drängten nach vorne. Ich natürlich auch. Was ich da sah, fand ich wirklich empörend. Es gibt hier ja gar nicht so selten eine Art Schausteller; Straßenartisten, Spaßmacher, Akrobaten,- Gaukler hätte man früher zu so was gesagt. Viele arbeiten auch mit dressierten Tieren. Die machen dann irgendwelche albernen Kunststücke, naja, wenn’s sein muss. Aber was hier am Seeufer ablief, das war pure Tierquälerei.
Zehn, fünfzehn Meter vom Ufer entfernt schwamm ein Paddelboot. Bis dorthin musste man es schaffen, dann mit dem Boot zum Ufer zurück, wer das schaffte, bekam irgend eine Riesenbelohnung,- soweit ich die Leute verstand, die ich fragte. Zu diesem Boot musste man aber erst hinkommen,- fahren, oder wie soll man sagen? Schwimmen? Man sollte zwei (dressierte?) Schwäne als Fahrzeug benutzen. Also auf sie steigen und sich von ihnen bis zum Boot, ja wie sagt man denn: schwimmen? fahren? tragen lassen? Es waren nur Männer, fette Wänste natürlich, die unter dem Kreischen ihrer Frauen, dem Grölen der Zuschauer ihr Glück versuchten. Natürlich viel zu schwer für die armen Schwänen. Dazu kam, - was für eine abstoßende Tierquälerei – dass diese Knallköpfe natürlich mit einem Fuß auf einen Schwan stiegen, der sofort tief unter Wasser getunkt wurde. Sie selber natürlich auch, weil sie sofort die Balance verloren, ins Wasser reinklatschten. Die Stimmung war riesig. Das ging so eine Zeit lang; ich kochte vor Wut, traute mich aber nicht einzugreifen. Mit meinen Sprachkünsten wär’ ich nicht weit gekommen, schon gar nicht in meiner Erregung. Ein halbes Dutzend Kerle hatten schon Schiffbruch erlitten und krochen triefend und prustend und grinsend den Beifall genießend aus dem Wasser heraus. Da tauchte ein kleiner Junge auf. Er stellte sein Surfbrett an’s Ufer, nahm kurz Anlauf und sprang mit beiden Füssen zugleich auf die Schwäne. Auch diesmal gingen sie ein bisschen in die Tiefe. Aber er war ja nicht schwer und dass er sein Gewicht auf beide Füße verteilte, war der entscheidende Trick. Und die Schwäne, also doch dressiert, brachten ihn tatsächlich bis zum Schiff. Und als er zurückruderte schwammen sie neben ihm her wie eine Eskorte. Du kannst dir vorstellen, wie groß der Jubel war. Und dann zum Schluss noch die größte Sauerei: im dem ganzen Trubel hatte sich der „Dompteur“ aus dem Staub gemacht und der kleine tapfere Junge ging ohne Belohnung und leer aus. (Ich hab ihm aber, ohne dass es einer gesehen hätte, einen ordentlichen Geldschein zugesteckt.)
Ich hoff’, deine Reise verläuft weniger aufregend. Bist du noch immer am gleichen Ort? Machs gut und schreib mir, auch wenn es bei dir gemächlicher zugeht.
J.

Mittwoch, 2. März 2011

14.
Seit gestern bin ich nicht mehr allein in der Herberge; ob das ein Gewinn ist, kann ich noch nicht sagen. Ein Pärchen ist in den Zimmern neben mir eingezogen; nach hinten hinaus. Sie haben also nicht den schönen Balkon wie ich mit dem Blick über den Fluss in den Park. Ich habe noch nicht mit ihnen gesprochen. Sie sind nicht sonderlich leise; ich hoffe, das wird besser, wenn sie erst mal alles verstaut haben. Offenbar haben sie viel Gepäck mit angeschleppt.

Nach dem Abendessen: nun weiß ich ein bisschen mehr über die Zwei. Sie ist Italienerin; das freut mich, da kann ich mich endlich mit jemand verständigen. Er, glaube ich, Däne. Jedenfalls wirkt er so. (Oh, ich seh dich förmlich hochfahren und was von miesen Vorurteilen fauchen). Er ist aber tatsächlich aus dem Norden Europas; versteht deutsch, leidlich spricht er es auch, aber offenbar nicht italienisch; mit ihr spricht er jedenfalls englisch. Was sie treibt, weiß ich noch nicht; er ist wohl Fotograf. Hatte neben seinem Teller eine dicke Kamera, die professionell aussah. Vermutlich war er die treibende Kraft, dass sie sich an einen anderen Tisch, einigermaßen entfernt von meinem, hingesetzt haben. So kam auch kein Gespräch zustande. Findest du das nicht komisch?
Er ist ganz schwarz gekleidet, trägt auch eine schwarze Lederjacke, sogar seine Haare sind schwarz und glänzen. Sie dagegen ist richtig bunt. Und entsprechend lebhaft. Er scheint sie oft zu korrigieren, hat jedenfalls was Pedantisches, ein wenig Besserwisserisches. Aber doch immer irgendwie freundlich. Ich glaub, ich werde morgen, oder so bald sich halt eine Gelegenheit gibt, mein Glück erst bei ihr versuchen; sie ist bestimmt froh, dass jemand hier ihre Sprache versteht.
Ich werden dir berichten, wenn ich mehr herausbekommen haben. Was macht eigentlich dein Zimmer (oder nur Wohnungs?) -genosse? Du hast mir nichts mehr von ihm geschrieben.
Für heute: sei heiter. Ich hab noch eine Lektüre, auf die ich mich freue.
Jacob

Dienstag, 1. März 2011

13.
Ob man sich durch Reisen ändert? Sollte man eigentlich, oder? Ich glaub, ich hab mein Hören verändert, oder sagt man: mein Horchen? Ich höre mehr, auch anders, obwohl ich nicht auf Anhieb sagen könnte, in wiefern ich jetzt „anders“ höre. Differenzierter? Nein, das klingt so herzlos akademisch. Genauer? Eher vielfältiger – der Ausdruck gefällt mir am besten. Manchmal höre ich – so kommt es mir vor – heftiger, ja: heftiger. Ich höre heftiger als früher, zu Hause.

Das hat schon auch einen äußeren Grund: hier gibt’s weniger Lärm, also weniger Geräuschebrei. Den bei uns so dominanten Verkehrslärm gibt hier fast gar nicht. In der Abgelegenheit meiner Unterkunft sowieso nicht; aber auch in der Stadt ist es wesentlich leiser. Ich geb’ dir ein Beispiel. Vor ein paar Tagen wurde ich wach, ziemlich früh, weil in dem Bauernhof hinterm Fluss jemand ein Tor aufsperrte. Nein, es fing früher an; ich war ja schon wach. Zuerst hörte ich Schritte. Sie hatten so was seltsam Wirkliches, wie eine Zeichnung auf einem sonst weißen Papier. Als gäb’ es sonst nichts als diese Schritte. Sie fingen ganz klein an und wurden, indem sie näher kamen, immer größer. Dann das metallische Aufratschen eines Rollos, ein gewaltiger Kratzer ins Stille; volltönend, anschwellend, ankommend; ein Klang (nicht bloß ein Geräusch) wie eine Persönlichkeit. Danach eine kurze Zeit wieder nichts. Eine Autotür: auf; watsch: wieder zu. Dann der jammernde Anlasser, der Motor springt an. Das Auto fährt langsam rückwärts heraus, wendet und dann – das war fast das Stärkste: dann fuhr es weg. In einer schier endlosen Abblende. Das einzige Hörbare auf der Welt. Und irgendwann wieder Stille. Vollkommen, mit diesem – ich weiß nicht ob du das kennst – mit diesem Wummern an den Ohren, von denen man nicht sagen kann: kommt es von außen, kommt es von innen.

Nun denk bitte nicht, dass ich hier auf Esoterik mache. Es liegt wirklich auch – das hab ich dir oben schon angedeutet – es liegt auch daran, dass hier soviel Stille vorhanden ist. Da können dann Einzelgeräusche wie Soli von Sängern hervorstechen. Übrigens, hab ich den Eindruck, tut das sehr gut, dass es hier insgesamt nicht so lärmig ist wie bei uns in der Großstadt. Aber ich treib es noch weiter. Über’m Fluss, hinter dem Wald, wo ich ziemlich am Anfang mal so einen grausigen Durchhänger hatte, du erinnerst dich vielleicht. Also noch ein wenig weiter hinein in den Wald kommt man an einen Wildbach. Man hört ihn zuerst, findet ihn aber nicht, weil er hinter Felsen versteckt ist. Da gehe ich manchmal hin, nur zum horchen. Ich hab einen Felsvorsprung entdeckt, da kann man sitzen. Anfangs war mir der Platz fast zu gruslig, weil man von hier in einen Abgrund hinunterschaut, wo der Wasserfall landet. Das Wasser ist da dunkelgrün, auch wenn es schäumt. Das Fallen des Wassers, sein Fliessen, das hat so was Bindendes, man kann fast den Blick nicht abwenden. Aber ich komm wegen des Geräusches hierher. Ich kann es dir nicht beschreiben, ohne ins Schwärmen zu kommen. Es sind auf der Tonleiter viele Töne. Und jeder hat eine andere Farbe und wenn man die Augen schließt auch eine andere Breite, oder Dicke. Ich geb’s zu, das sind alles hilflose Metaphern. Der Begriff „Rauschen“ ist ja in seiner akustischen oder nachrichtentechnischen Definition als verminderte Information festgelegt. Der Träger, das Medium einer Nachricht drängt sich vor die Nachricht, „vernebelt“ sie. Gerade das ist es aber hier nicht. Mein Bach und sein Wasserfall haben die Botschaft, die sie tragen, in sich aufgesogen. Man könnte es auch weniger geschwollen sagen: hier handelt es sich nicht um Geräusch sondern um Musik. Wenn die Sphärenmusik des Kosmos für uns hörbar wäre, dann wäre das hier das Pendant auf Erden.
Du schüttelst besorgt deinen Kopf, brühst dir einen frischen Tee auf (Darjeeling? Oder den sündteuren Grünen?) und denkst dir: der arme Kerl. Nein, nein! Ich fühle mich so reich wie noch nie. Also mach dir um mich keine Sorgen.
Liebe Grüsse,
J.